Nach der Hysterie

Sexualisierte Gewalt in Dresden

[Interview aus der SüdPost N° 5]

 

Im Interview: Claudia Joseit in Vertretung der Dresdner Gleichstellungsbeauftragten, Dr. Stanislaw-Kemenah, sowie Dorothée Marth, Familienpolitische Sprecherin der SPD-Stadtratsfraktion

Albrecht Pallas: Sexualisierte Gewalt war lange Zeit kein öffentliches Thema. Seit der Kölner Silvesternacht hat sich das geändert. Auch wenn die Motive teils zweifelhaft waren, zog das grundsätzliche Problem wieder die öffentliche Debatte ein. In vielen Städten fragen sich Bürgerinnen und Bürger, wie die Situation bei ihnen vor Ort ist. Also, wie ist die Situation bei uns vor Ort?

Claudia Joseit: Das stimmt, öffentlich wahrgenommen wird sexualisierte Gewalt nur in besonderen Einzelfällen. Das alltägliche Ausmaß ist den meisten Menschen unbewusst. Lassen Sie mich das mit verschiedenen Zahlen verdeutlichen: Die Kriminalstatistik spricht 2014 von 297 Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, was etwa 60 Fällen auf 100.000 Einwohnenden entspricht. Ebenfalls 2014 haben wir im Rahmen der Aktion „Mut schöpfen – gegen häusliche Gewalt“ über das Büro der Gleichstellungsbeauftragten 3.366 offizielle Gewaltopfer – also Personen, die sich an eine Beratungsstelle gewandt haben –, davon über 90 Prozent Frauen, gezählt. Und in der Dresdner Interventions- und Koordinierungsstelle zur Bekämpfung häuslicher Gewalt werden monatlich etwa 40 bis 45 Personen beraten, somit eine ähnliche Anzahl wie in den letzten zwei Jahren.

Dorothée Marth: Es gibt bei sexualisierter Gewalt eine hohe Dunkelziffer. Viele Opfer suchen weder Beratungsstellen auf, noch schalten sie Polizei und Staatsanwaltschaft ein. Nach ernstzunehmenden Untersuchungen sind etwa 40 Prozent aller Frauen in Deutschland im Laufe ihres Lebens Opfer häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt. Besonders bei Vergewaltigungen wird deutlich, wie untragbar die Situation ist: Gerade mal 8 Prozent aller angezeigten Fälle enden mit einem Urteilsspruch. Viele Opfer wollen die Taten geistig nicht noch einmal durchleben müssen. Wenn sie es trotzdem bis zur Anzeige und sogar zum Verfahren schaffen, beginnt dort der nächste psychische Dauerbeschuss. Da die Aussage des Opfers meistens der wichtigste Bestandteil des Verfahrens ist, verfolgen StrafverteidigerInnen häufig die Strategie, die Zeugin und ihre Aussage unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Die Unterstellung der Falschaussage und die Defizite im Sexualstrafrecht lassen einen Großteil der Verfahren platzen.

Albrecht Pallas: Diese Defizite wurden seit Silvester oft angesprochen, obwohl sie schon deutlich länger bekannt sind und kritisiert wurden. Können Sie das nochmal genauer ausführen, Frau Marth?

Dorothée Marth: Wir brauchen dringend einen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht: Nicht mehr das Verhalten des Opfers muss entscheidend für eine Verurteilung sein, sondern der Täter muss für sein Handeln Verantwortung übernehmen. Denn nach der jetzigen Rechtslage muss sich das Opfer gegen die sexuellen Handlungen wehren, also das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aktiv verteidigen – das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung hat damit eine nicht nachzuvollziehende Sonderstellung unter den Rechtsgütern. Um nach §177 bzw. §179 StGB verurteilt zu werden, müssen sowohl der Gebrauch von Gewalt als auch die Ausnutzung einer schutzlosen Lage bzw. die Bedrohung von Leib und Leben nachweisbar sein. Nicht wenige sind aber von der Situation so überwältigt und verfallen in Schockstarre. Sie sind dann zu keiner Reaktion in der Lage. Obwohl die Handlung gegen ihren Willen passieren, ist es gegenwärtig nicht strafbar. Auch gegen unsittliche Berührungen haben wir keinen rechtlichen Schutz. Aber wenn man das vor der Silvesternacht angesprochen hat, hieß es „Dann mach doch die Bluse zu!“. Das saubere Image der Gesellschaft musste erst von außen gestört werden und nun heißt es aus den gleichen Kreisen, der arabische Mann und das islamische Frauenbild wären das Problem. Aber wer sich noch an die Diskussion zur Einführung des Straftatbestands der Vergewaltigung in der Ehe – 1997! – erinnert, den kann das kaum verwundern.

Albrecht Pallas: Nun ist das Problembewusstsein glücklicherweise nicht in der Breite der Gesellschaft auf diesem vorgestrigen Niveau stehen geblieben. In unterschiedlichster Form arbeiten Kommunen und Initiativen gegen Gewalt und Missbrauch. Stadt und Land haben die Förderung dieser Arbeit auch in den letzten Jahren angehoben. Frau Joseit, dazu haben Sie doch sicher einige Erfahrungen aus dem Büro der Gleichstellungsbeauftragten?

Claudia Joseit: Als Landeshauptstadt haben wir natürlich eine gewisse Beratungs- und Präventionsbandbreite zu bieten. Im Frauen- und Mädchengesundheitszentrum MEDEA e.V. wird neben der Beratung bei sexualisierter, körperlicher und seelischer Gewalt auch ein Selbstverteidigungskurs für Mädchen angeboten. Der bereits angesprochenen Interventions- und Koordinierungsstelle zur Bekämpfung häuslicher Gewalt/Gewalt im sozialen Nahraum (D.I.K.) ist ein Frauenschutzhau angeschlossen. Die AWO Kinder- und Jugendhilfe betreibt das Projekt „SHUKURA – Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen“. Der Verein *sowieso* bietet Weiterbildungen und Fachberatungen zu den Themen häusliche Gewalt, sexualisierte Gewalt und sexueller Missbrauch. Und natürlich steht auch die Opferhilfe Sachsen e.V. für Beratung und Begleitung zur Verfügung. Und das war nur ein kurzer Auszug. Dabei möchte ich aber nicht unterschlagen, dass wir damit gegenüber dem ländlichen Raum einen gewaltigen Vorteil haben. Da müssen Sie allerdings im Landtag nach Möglichkeiten suchen, die dezentralen Anlaufstellen außerhalb der Ballungsräume zu stärken.

Albrecht Pallas: Die Hysterie nach der Silvesternacht hat auch ihr Gutes. Im Deutschen Bundestag hat die Diskussion über die Verbesserung des Sexualstrafrechts an Fahrt aufgenommen. In der Gesellschaft und der Politik ist die grundsätzliche Aufmerksamkeit für das Thema gestiegen. Deshalb diskutieren wir SPD-Landtagsabgeordneten gerade mit unserem Koalitionspartner verschiedene Ideen, wie wir Opfern sexualisierter Gewalt mehr Schutz und bessere Rahmenbedingungen im Strafverfahren schaffen können. Die Möglichkeit der verfahrensunabhängigen Beweissicherung soll beispielsweise eingeführt, Sonderzuständigkeiten in Polizei und Staatsanwaltschaften (wieder) eingerichtet werden. Wir wollen damit erreichen, dass deutlich mehr Taten angezeigt und aus der Dunkelziffer geholt werden können. Die Gespräche laufen und wir werden hier wieder berichten.

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